Mensch, Wild und Waldspaziergang
Der Wald ist schon ein besonderes Wesen. Er besticht nicht nur durch seine räumliche Ausdehnung, in der er sich zuweilen bis zur Kathedrale aufschwingt, sondern vor allem durch seine Vielseitigkeit und Vieldeutigkeit für uns Menschen: er ist Holz-Fabrik und Arten-Kammer, Wasser-Speicher und Luft-Filter. Vor allem aber ist er für uns Menschen Seelen-Balsam und Wellness-Center. Und wenn er bei einem Spaziergang für uns gar zum wirklichen Ereignis- und Erlebnisraum werden soll wird er dies zuallererst in der Begegnung mit einem zweiäugigen und befellten Wildtier. Dieses Wildtier ist das wesentliche emotionale Bindeglied zwischen Menschen, Natur und Wald.
Und wenn dieses emotionale Bindeglied durch eine rigorose „waldfreundliche“ Jagd bis auf eine schlichte Un-Wahrnehmbarkeit zusammengeschossen wird, kommt es zu einem leisen Bruch in jener Beziehung. Wenn dieses Wildtier (nennen wir es Reh!) in einer völligen Bedeutungslosigkeit innerhalb der Natur- und Waldwahrnehmung verschwindet – verlieren auch wir gewiss einen „guten Teil“ der emotionalen Bindung zum Wald.
Wir „Fachleute“ mit unserem ökologischen, forstlichen, jagdlichen oder sonst wie fachlich geprägtem Sachverstand – wir messen den Wald in Artenspektren, Vegetationseinheiten, Waldentwicklungphasen, Biomassevorräten, Festmetern, Bestandeshöhen, Hiebsätzen, Jagdstrecken, Jagderlebnissen usw.
Jeder normale Mensch bewertet einen Waldspaziergang gewiss nach anderen Kriterien vielleicht nach frischer Luft, vielleicht nach Stille, vielleicht nach großen Bäumen – vor allem aber ganz gewiss und fast immer: nach der Begegnung mit wilden, scheuen Augenpaaren!
Dem Wald „auf Augenhöhe“ zu begegnen heißt einem Reh, einem Hirsch, einem Wildschwein begegnen, heißt nicht primär Baumstamm, Baumkrone, Baumverjüngung. Wir sehen den Wald an und er sieht uns an, in Form von lebendigen Augenpaaren. Diese Erkenntnis geht in der waldverjüngungszentrierten, den „Klimastabilwald-aufbauenden Pseudo-Öko-Wahrnehmung“ von sogenannten Öko-Jägern und Öko-Förstern immer wieder nahezu unter.
Die zweiäugigen, befellten, wechselwarmen Säugetiere sind nun einmal unsere engsten Verwandten in der heimischen Restnatur. Wären Rehkitze gar Orang-Utan-Babys oder Hirschkälber Schimpansen-Kinder wäre unsere Verbindung zu jenen Felltieren noch eine ganz andere – und würden Orang-Utans oder Schimpansen Waldverjüngungen zusammenbeißen oder Jungbestände schälen, wäre die Regulierung dieser Waldschädlinge auf ein „ökologisch verträgliches Maß“ noch ganz anders Gegenstand kontroversester Diskussionen…
Wenn ich „Otto Normal Mensch“ nach einem Waldspaziergang frage und sie/er/es sind einem Reh oder einem Fuchs oder gar einem Hirsch oder einem Dachs begegnet, wird diese Begegnung ganz gewiss eine separate Erwähnung wert sein. Die Bäume, die Stille, die frische Luft sind ja nahezu immer präsent. Und sie machen jenen Waldbegang sicherlich auch aus – aber zu etwas besonderem wird er immer noch und immerdar durch die Begegnung mit einem wilden Tier.
Natürlich werden die ganzen „Öko-Jäger“ jetzt sagen und argumentieren: Aber die unverbissene, artenreiche Verjüngung ist doch viel, viel wichtiger für das Ökosystem Wald als die Beobachtung eines Rehs. Vielleicht werde ich dann nur schlicht entgegen „der Mensch lebt nicht vom Brot allein“. Das wäre gewiss richtig – aber es würde ebenso gewiss zu kurz greifen.
Zu kurz, weil ich weiß, dass beides möglich ist! Das es gangbare Wege zu „Wald und Wild“ und zu „Wald mit Wild“ gibt. Ich kann das eine tun ohne das andere zu lassen. Ich muss es nur wollen und ich muss geistigen Schmalz und Energie aufbringen damit das Zusammenspiel zwischen beiden gelingt. Es ist gar nicht so schwer und wahrlich kein Hexenwerk.
Wo ein Wille zur „Welt mit Wald und Wild“ ist – dort sind auch gangbare Wege dorthin.
Ich möchte weder in einem wildstrotzenden Forst, in dem kaum ein Kräutlein mehr wächst, umherwandern noch in einem wildleeren Wald, in dem mich nur unverbissene Baumdschungel anstarren.
Burkhard Stöcker