„Urbane Utopie“ und „Ländliche Logik“
Mit der Energiewende, der flächigen Etablierung der Windenergie und der Solarfelder erleben wir derzeit die größte Veränderung der Landschaft Europas seit über tausend Jahren: Nur die große Rodungsperiode des Mittelalters gestaltete unsere Landschaft ähnlich gewaltig und ähnlich gewalttätig um. Damals wurde der Wald auf nahezu 30% zurückgedrängt (in etwa seine heutige Ausdehnung) und seit dieser Zeit existiert unsere mehr oder minder heute vorhandene Wald/Feld Verteilung. Wir erleben mit der flächigen Etablierung der erneuerbaren Energien den größten Industrialisierungsprozess – seit der Industrialisierung.
Die klassische Industrialisierung der vergangenen 200 Jahre war jedoch eine weitestgehend städtische: Fabriken und Gewerbegebiete wuchsen in Städten, am Rande von Städten oder auch einmal am Rande von Dörfern und ländlichen Gemeinden. Aber sie waren fast stets Bestandteile menschlichen Siedlungsraumes.
Die flächige Industrialisierung der Jetztzeit
Der jetzige Industrialisierungprozess der Energiewende wandert nun völlig in die Fläche – er entkoppelt die industrielle Entwicklung nahezu von der menschlichen Wohn- und Lebenswelt des städtischen Raumes.
Und dieser flächige Industrialisierungprozess, der nun auch die bislang entlegensten Winkel unseres Landes rotierend erreicht – und das ist das wirklich bizarre – segelt unter dem Terminus von „Öko“, von „Umweltschutz“, von „sauberer Energie“. Die in der Geschichte Mitteleuropas bislang größte, je wahrnehmbare flächige Industrialisierung ist eine „Im Namen von Mutter Natur“. Im Namen von „Mutter Natur“ verwandelt wir die Reste von „Mutter Natur“ in eine Industrielandschaft!
Und diese Umwandlung ist wieder einmal eine im Namen von „Energie“. Die Opfer, die wir in der Vergangenheit für unsere Energieversorgung aufgebracht haben, waren nahezu immer grenzenlos und absolut: für Holz haben wir in historischer Zeit Mitteleuropa entwaldet, für Öl nahmen wir die Verschmutzung ganzer Förderregionen und Teile der Weltmeere in Kauf, für die Braunkohle „verbaggerten“ wir ganze „Heimat-Landschaften“, für die Atomenergie opferten wir die Entvölkerung und Kontamination ganzer Landstriche. Und für „die Neuen“ nehmen wir jetzt nahezu unser ganzes, auch das „ländliche Land“, in den Schwitzkasten industrieller Verbauung.
Die Zeche der neuen Industrialisierung zahlt… – die ländliche Region!
Und jene Windenergieparks und Solarfelder werden nicht flächig in den Tiergarten in Berlin gebaut oder in den Park von Sanssouci in Potsdam, den Volkspark in Hamburg oder den englischen Garten in München, nein nach Vorpommern oder in die Altmark oder nach Ostfriesland, oder in den Hunsrück.
…und nicht der urbane Utopier
Entscheidungen für den ländlichen Raum werden in den Städten gefällt: Der Windenergie-Wendebefürworter gehört der aufgeklärten Öko-Gemeinde heutiger Zeit an. Er rührt im Latte Macchiato in seinem Lieblingscafé in der Altstadt, blättert mal im „Manufactum Katalog“ oder auch mal in der „Landlust“. Gab es in der Landlust je schon einmal ein Windrad oder ein Solarfeld? All das ist aber inzwischen immer mehr raumgreifender „Landfrust“. Davon nimmt jedoch der moderne „Urban-Öko“ kaum etwas wahr oder er nimmt es schlicht in Kauf für jenes übergeordnete Ziel der „allgemeinen Weltenrettung“. Und wenn er dann am Wochenende raus aufs Land fährt finden sich glücklicherweise immer noch ein paar idyllische windenergiefreie Rest-Dörfchen, in denen kein Rad einer Windenergieanlage die Lektüre der Landlust „überschattet“.
Corona beflügelt eine neue Landlust
Im Moment entdeckt, stark beflügelt von der Corona Krise, der Städter wieder eine neue Liebe zu jenem Land. Vielleicht liegt auch darin nun eine Chance für den vielbeschworenen dringend nötigen Stadt-Land, Land-Stadt Diskurs.
Vielleicht merkt dann der Urbanier das auf dem Land eine reale Logik existiert, die aus seiner urbanen Utopie entstanden ist und die weit, sehr weit entfernt ist von dem was die „Landlust“ so zu erzählen im Stande ist. Und wenn Corona dann eines Tages vorbei ist, werden auch die Landeier wieder hinein in die Städte fahren und in gemeinsamen Gesprächen mit dem Urbanier den Latte Macchiato genießen – und nach neuen gemeinsamen Wegen für Stadt und Land suchen, mit oder ohne Landlust…
Burkhard Stöcker